Die Odenwälder Gäulchesmacher


(von Manfred Kassimir)
Die Odenwälder „Gäulchesmacher“ gingen aus dem Berufsstand der Horn- und Holzdrechsler hervor. Hochburg der Gäulchenherstellung war Niedernhausen, das zum heutigen Fischbachtal im südlichen Odenwald gehört.

Warum Gäulchen?
Für den Menschen hatte das Pferd schon immer eine große Bedeutung als Wegbegleiter und als Arbeitstier. So war es auch nicht verwunderlich, dass die Pferdchengestalt auch Einzug als Spielzeug für Kinder in die Kinderwelt hielt.
Bereits im Mittelalter ist belegt, dass Steckenpferde als Spielzeug dienten. Miniaturzeichnungen in kirchlichen Büchern und Holzschnitte weisen darauf hin. So gesehen ist es ganz natürlich, dass eines der ältesten Haustiere, die der Mensch für sich in Anspruch nahm, auch in künstlerischer und spielerischer Form verewigt wurde.
Die Nutzung einer primitiven Drechselbank kann bereits für die Zeit von Karl des Großen ( 800 n. Chr. ) nachgewiesen werden. Im Namen Karl des Großen wurden bereits gesetzliche Regeln für die Drechselkunst erlassen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Fiedeldrehstuhl als erster nachweisbarer Drechselstuhl. Das Werkstück wird zwischen zwei Holzpfählen mit Löchern gelagert. Ein Fiedelbogen umspannt das Werkstück und wird durch die Hin- und Herbewegung in Bewegung versetzt. Mit dem Drehmeisel wird das Werkstück während der Rotation bearbeitet. Der Nachteil des Fiedeldrehstuhles bestand darin, dass das zu bearbeitende Werkstück nur in einer Drehrichtung zu bearbeiten war. Der Rückweg war Leerlauf.
Die Arbeitsweise veränderte sich mit der Entwicklung der Wippdrehbank. Mittels einer fußbetriebenen Wippe und eines mit einem Keilriemen verbundenen Schwungrads konnte die Drehbewegung in einer Richtung bei gleich bleibendem Drehmoment beibehalten werden. Gleichzeitig waren beide Hände für die eigentliche Arbeit frei.
Die Drechselarbeit war in der Gesellschaft sehr hoch angesehen, dass sogar hochgestellte Persönlichkeiten sich mit der Drechselkunst beschäftigen ( z. B. Graf Franz I von Erbach ).

Warum Niedernhausen?
Der gesamte Odenwald war und ist stark durch seine Landwirtschaft geprägt. Eine Industrie, wie in heutiger Form, existierte früher in dem ländlich geprägten Gebiet nicht. In den arbeitsarmen Wintermonaten verlegten sich die Bauern auf Heimarbeit, um damit ihren Lebensunterhalt aufzubessern. Die Horn- und Holzdrechselei war in diesem Gebiet bereits stark vertreten. Mitte des 19. Jahrhunderts ging die Nachfrage für diese Produkte stark zurück, sodass sich die Horn- und Holzdrechsler gezwungen sahen, sich andere Einkunftsmöglichkeiten zu erarbeiten.
Auch nahm die Bevölkerung um die Jahrhundertwende und nach den napoleonischen Kriegen drastisch zu. Hungersnöte zwangen die Bevölkerung sich nach anderen als den herkömmlichen Verdienstmöglichkeiten umzusehen oder, alternativ dazu, blieb lediglich das Auswandern nach Übersee.
So entschlossen sich viele Familien, kleinere, leicht zu fertigende Gegenstände herzustellen, die sie später auf den nahe gelegenen Märkten verkaufen konnten. Die Aufhebung des Zunftzwanges erleichterte dieses Vorhaben.
So ließen sich Horndreher dazu verleiten, in die Sparte der Holzdrechsler überzuwechseln. Insbesondere etablierten sich die Horn- und Holzdrechsler in Niedernhausen, die neben Holzpuppen, Ratschen und Nadeldosen auch dazu übergingen Schaukelpferde herzustellen.
Nicht belegbaren Erzählungen zufolge soll es ein Wanderbursche gewesen sein, der den Beruf des „Gäulchesmacher“ von seiner Gesellenwanderschaft mit nach Niedernhausen brachte und dort weiter verbreitete. Die gefertigte Ware wurde über Hausierer vermarktet. Später, mit dem Beginn der Eisenbahnzeit, bestand dann die Möglichkeit, die Ware in größeren Mengen auf den Markt zu bringen.
So konnte mit den einfach vorhandenen Mitteln die Produktion der „Odenwälder Gäulchen“ aufgenommen werden. Die Arbeitsmaschinen der Dreher und Drechsler waren vorhanden. Das benötigte Holz wuchs direkt vor der Haustür. Aus den Anfängen der „Gäulchesmacher“ entwickelte sich ein richtiggehender, selbstständiger Berufszweig der über das ganze Jahr hinweg produzierte. Die Pioniere der „Gäulchesmacher“ schickten die nachfolgende Generation zu anderen „Gäulchesmacher“ in die Lehre. Durch die Verschmelzung ihrer Kenntnisse wurde das Endprodukt „Odenwälder Gäulchen“ in Form und Farbe immer ähnlicher, bis es die heute typische Gestalt annahm.
In der Blütezeit der Gäulchenhersteller verschafften sich insgesamt 23 Vollzeitbetriebe ihren Lebensunterhalt mit der Herstellung dieses Holzspielzeuges. Die meisten Betriebe waren Familienbetriebe, in denen jedes Familienmitglied nach Alter und Können in die Herstellung der Gäulchen mit eingespannt war.
Es wurden Gäulchen in allen Größen, von 10 – 55 cm Stockmaß gefertigt. Verschiedene Formen, wie z. B. der „Schockelgaul auf Kufen“, „das Pferd auf Rollen“ oder aber das Steckenpferd, der Schaukelstuhl oder Pferdegespann mit Leiterwagen fanden Einzug in die Produktpalette.
Die Pferdchen hatten aber alle eines gemeinsam - die Farbgebung.
Die „Odenwälder Gäulchen“ erhalten als Grundfarbe die Farbe Weiß mit schwarzen Flecken. Die Pferdemähne, das Zaumzeug und die Hufen werden mit der Hand schwarz aufgemalt. Die Kufen oder Räder werden rot lackiert. So erhält jedes hergestellte Pferdchen einen individuellen Anstrich. Die Charakteristik des Gäulchens bleibt aber erhalten.
Aus der Arbeit der „Gäulchesmacher“ hat sich bis in die heutige Zeit ein Kinderreim erhalten:

Troß, troß trill,
der Bauer hoat e Fill.
Un dess Fillsche will net laafe,
un de Bauer will`s verkaafe.
Er springt iwwer de Graawe,
er springt iwwer de Sumpf,
do macht der Reiter „plumbs“!

Übersetzt heißt der Kinderreim sinngemäß:
Troß, troß drehen (drechseln)
Der Bauer hat ein Pferd.
Und das Pferdchen will nicht laufen,
und der Bauer will`s verkaufen.
Er springt über den Graben,
er springt über den Sumpf.
Da macht der Reiter „plumbs“!

Die Arbeit des „Gäulchesmacher“ wird auch als „Bosselarbeit“ bezeichnet, was so viel wie „viel händische Kleinarbeit“ bedeutet.
Waren in der Blütezeit der „Odenwälder Gäulchesmacher“ noch 23 Betriebe mit der Herstellung des Holzspielzeuges beschäftigt, so nahm die Anzahl der Betriebe stetig ab. Durch den 2. Weltkrieg kam die Produktion der Gäulchen komplett zum Erliegen. Ausfuhren in das benachbarte Ausland waren nicht mehr möglich und die Kapazitäten der Drechsler wurden für wichtigere Dinge des Lebens benötigt. Viele der Odenwälder Drechsler verlegten ihre Produktion auf das Herstellen von Holzsohlen für Schuhe.
Nach dem 2. Weltkrieg erlebten die „Gäulchesmacher“ noch einmal eine Renaissance, bis sich die Herstellung von Kinderspielzeug aus Blech und Kunststoff durchsetzte. Nach und nach mussten die Familienbetriebe sich dieser Neuerung beugen und ihre Betriebe aufgeben.
Bis auf die Traditionsfamilie Krämer, heute ansässig im Reichelsheimer Ortsteil Beerfurth. Der Familienbetrieb Krämer konnte die Durststrecke der Entwicklung überbrücken und ist heute der einzige Familienbetrieb im Odenwald, in dem die original „Odenwälder Gäulchen nach alter Tradition herstellt werden. Mit Liebe und Hingabe werden die „Schoggelgäulchen“ noch mit Hand gefertigt.
Es beginnt damit, dass Harald Boos seine Holzbedürfnisse aus der nahen Umgebung befriedigt.. z. B. mit Pappel-, Kiefern- und Buchenholz aus der heimischen Region. Über jeden einzelnen Holzstamm, den er verarbeitet, kann er die Herkunftsgeschichte schildern. Mittels einer eigenen einläufigen Gattersäge, Baujahr 1938, schneidet er seine Stämme in entsprechende Stücke. Diese lagern 2-3 Jahre auf eigenem Gelände. Erst dann ist das Holz für die Weiterverarbeitung geeignet.
Aus dem Pappelholz wird der Torso des Pferdchens gedrechselt. Dazu wird der Mittelpunkt des Kantholzes an der jeweiligen Stirnseite markiert. Der Holzklotz wird in die Drechselbank eingespannt und mittels Röhre und Meisel und der nötigen Rotation in die gewünschte Form gebracht. Der Ansatz für den Kopf und die Beine werden anschließend abgeflacht.
Die Beine und die Kufen des „Schoggelgaules“ werden aus Buchenholz gefertigt. Die Kufen werden unter Dampf gebogen, bis sie die entsprechende Krümmung erreicht ist. Bei den Nachziehpferdchen wird die Plattform aus Kiefernholz geschnitten. Die Rollen werden aus Buchenholz gedrechselt. Die Kopfform, zumeist aus Kiefernholz, wird mit einer Bandsäge zugeschnitten.
Sind die Einzelteile des „Odenwälder Gäulchen“ verleimt und getrocknet, wird mit der Farbauftragung begonnen. Die verwendete Farbe ist lebensmittelecht und daher gesundheitlich unbedenklich. Die kleineren Pferdchen werden in .eine Grundierungslösung eingetaucht. Dies ist nötig, um eine Aufrichtung der Holzfaserung zu verhindern. Anschließend wird die typische weiße Grundfarbe aufgetragen. Um den Charakter des Apfelschimmels zu erlangen, werden die schwarzen Flecken händig mit dem Pinsel aufgemalt. Durch diese Handmalerei ist jedes hergestelltes Pferdchen ein Unikat. Mittels Schablone wird Decke, Sattel, Zaumzeug und Pferdemähne aufgetragen. Zum Schluss erhält das Pferdchen noch seinen Schweif aus Hanf. Den Kundenwünschen entsprechende können die Pferdchen auch Naturbelassen werden. In diesem Fall wird das Pferdchen gewachst, sodass die Maserung des Holzes so richtig zur Geltung kommt.
Die Holzteile für die kleinsten Pferdchenausgaben kommen in eine Holztrommel. Unter ständigem Drehen schleifen sich die Holzteile gegenseitig ab, sodass keine weitere Schmirkelarbeit mehr nötig ist.
Das „Urpferdchen“ des „Odenwälder Gäulchen“ existiert nicht mehr – aber die Zeichnungen der ersten Pferdchen sind noch vorhanden.
Der Verdienst der frühen „Gäulchesmacher“ hielt sich in Grenzen. So verdiente ein Holzdrechsler 1907 bei 12-stündiger Arbeitszeit zwischen 14 und 18 Pfennig die Stunde – außer Sonntags.
Ab 1920 wurde die Arbeit der Holzdrechsler mit der Einführung der Elektrizität wesentlich erleichtert.
Elektrisch angetriebene Drehbänke mit gleich bleibender Rotation brachten erhebliche Erleichterungen mit sich. Die Form und Gestaltung des „Odenwälder Gäulchens“ blieb aber trotz aller Erleichterungen gleich.
Trotz erheblichen Rückgangs der Spielzeugherstellung aus Holz hat sich aber der Familienbetrieb Krämer einen festen Platz unter den Liebhabern von Holzspielzeug erhalten.

Quelle:

Dr. Peter Albrecht u. Horst Wolniak Die Geschichte des Handwerks
Rosemarie Beck Breubergbund
Harald Boos www.gäulchesmacher.de
Heinrich Eidmann u. Max Fleischer Gäulchesmacherbericht „Die Mainbrücke“
Max Fleischer Heimarbeit im rhein-mainischen Wirtschaftsgebiet 1914
Gerd Grein Sammlung zur Volkskunde Bd. 13
Gerd Grein Weihnachten im alten Hessen
Wolfgang Kraft Familiäre Einheit und Handwerkskunst – Odw-Echo 1995
Thomas Olivier Mittelbayrische.de
Heiko Plößer Vom Schockelgäulchen zum elektr. Spielzeug
Günter Pütz Hessischer Rundfunk 12/2007
Karl Schwinn Alters Handwerk
B. Schwöbel Fischbachtal-Odw.de
Kirsten Sundermann Kartoffelsupp
Kirsten Sundermann Blickpunkt Gersprenztal
Georg Wittenberger FAZ – Bericht über Gäulchesmacher
Reichelsheimer Regionalmuseum
Zeitschrift „Für Sie“ Ausgabe 24/2009
Hess. Landesamt für geschichtliche Landeskunde
Echo online Kindheitstraum auf grünen Kufen
Odenwälder Freizeitjournal Reichelsheimer Gäulchesmacher 1997
Wikipedia Drechslerverband – Geschichte des Handwerks
Text und Bilder Manfred Kassimir
Mein besonderer Dank gilt Harald Boos, der mit persönlichen Erklärungen und praktischen Vorführungen mir das Handwerk des „Gäuchesmacher“ näher gebracht hat.