Der Raubacher Jockel


Ein OdenwÀlder Original
(von Manfred Kassimir)
Wie jedes andere Gebiet, so brachte auch der Odenwald seine Originale an Menschen hervor, die durch ihre Lebens- oder Verhaltensweise sich von den NormalbĂŒrgern abhoben. Dies konnte in positiver, negativer, aber auch in skurriler Betrachtungsweise der Fall sein. Diese Originale, oder besser gesagt, ihr Tun, blieben im GedĂ€chtnis der Mitmenschen haften und fanden Eingang in ErzĂ€hlungen von Begebenheiten und Geschichten, lange ĂŒber die Lebensdauer der betroffenen Person hinaus. Wahre Begebenheiten oder auch Erfundenes wurden vermischt und zum Teil so wiedergegeben, wie es dem ErzĂ€hler gerade in den Sinn kam oder der Situation entsprechend angebracht fand. Auf jeden Fall wurde dieser Person in Form von mĂŒndlicher Überlieferung oder auch in schriftlicher Form ein Denkmal gesetzt, ganz gleich, ob diese Person sich dieses Denkmal durch sein Tun oder Verhalten auch wirklich verdient hatte.
Auch der Raubacher Jockel war einer der OdenwĂ€lder Originale, die mit Schalk im Nacken die Aufmerksamkeit auf sich lenkten und das eine oder andere Mal fĂŒr Schmunzeln oder Verwirrung sorgten. Man kann ihn mit Fug und Recht als den OdenwĂ€lder „Till Eulenspiegel“ bezeichnen. Dem Raubacher Jockel wurde im Nachhinein ein Denkmal in Form eines Gedenksteines in seinem Geburts- und Heimatortes Raubach, dem heutigen Ortsteil der Gemeinde Rothenberg, gesetzt.
Das Höhendorf Raubach liegt im sĂŒdlichen Zipfel des Odenwaldkreises auf einer Höhe von 450 Metern und gehörte verwaltungsmĂ€ĂŸig zum Gebiet des Grafen Erbach-FĂŒrstenau.
Im Jahre 1740 schenkte der Graf zu Erbach-FĂŒrstenau obdachlosen Menschen ein 128 Morgen umfassendes StĂŒck Land. Auf diesem Land konnten diese Menschen sich kleine HĂ€user errichten. Das Bauholz fĂŒr diese HĂ€user wurde kostenlos aus dem Erbach-FĂŒrstenauer Forst zur VerfĂŒgung gestellt. Im Gegenzug verpflichteten sich diese Nutznießer, dass sie und ihre Nachkommen Fronarbeiten in Form von Waldarbeiten im GrĂ€flich Erbach-FĂŒrstenauer Forst leisteten. Ab 1806 wurde Raubach eine eigenstĂ€ndige Gemeinde, die aber durch den BĂŒrgermeister der Nachbargemeinde Finkenbach mit verwaltet wurde. Die einzige Verbindung zu dem Dorf Raubach bestand aus einem unbefestigten Hohlweg, der erst 1929 durch die heutige Kreisstraße ersetzt wurde.
Der Name „Jockel“ ist die Kurzform fĂŒr Jakob. Der Raubacher Jockel, mit bĂŒrgerlichen Namen Jakob Ihrig, wurde am 05. Mai 1866 in Raubach geboren. Seine Eltern waren der Johann Peter Ihrig und seine Mutter eine Anna Margarethe geb. KrĂ€mer.
In diesem kleinen Dorf, das im sĂŒdlichen Odenwald gelegen ist, wuchs Jakob unbeschwert, aber ohne besondere Schulbildung auf. Eine berufliche Ausbildung genoss Jockel ebenso wenig. Trotzdem war Jockel in vielen Berufen bewandert. Er verdiente seinen Lebensunterhalt u. a. als Köhler, Waldarbeiter, Gemeindediener, TotengrĂ€ber, als FeldschĂŒtz und als Uhrmacher und Reparatur anderer technischer GerĂ€tschaften. Blieb die eine oder andere Schraube bei dieser Instandsetzung ĂŒbrig, war das nicht weiter tragisch, denn das GerĂ€t funktionierte nach dem Eingriff durch Jockel immer noch einwandfrei.
Seine große Liebe galt aber der Musik. Obwohl der Jockel nie gelernt hatte, Musiknoten zu lesen, oder ein Musikinstrument zu erlernen, so spielte er doch fast jedes Instrument, das ihm in die HĂ€nde fiel.
Er kannte fast alle gÀngigen Volkslieder und die TÀnze, die bei den Dorffesten getanzt wurden. So entlockte er seiner Geige, seiner Trompete und seinem Akkordeon so viele freundliche Töne, dass Jung und Alt begeistert ihr Tanzbein schwangen oder mitsangen.
So zog Jockel von FrĂŒhjahr bis zum Herbst von Dorf zu Dorf und von Kirchweih zu Kirchweih. Immer dort, wo es etwas zu feiern gab, war auch der Jockel mit seiner Musik anzutreffen. Teils spielte er alleine auf, teils hatte er noch weitere Musiker, die ihn unterstĂŒtzten. Doch bei aller Freundlichkeit, einen Fehler hatte der Jockel doch an sich – er hatte immer einen gewaltigen Durst. Ob Bier, Wein oder Brandwein, Jockel konnte alles trinken ohne richtig betrunken zu sein. Auch der OdenwĂ€lder „Racheputzer“ konnte ihm nicht viel anhaben. Der Durst blieb so lange erhalten, bis dass das durch Musik verdiente Geld wieder aufgebraucht war. (Raubacher Einheimische widersprechen dieser Aussage vehement und bestehen darauf, dass Jockel mit seinem verdienten Geld weitere Familienangehörige unterstĂŒtzte.)
Nur dem OdenwĂ€lder Heidelbeerwein war er eines Tages auf dem Beerfelder „Gailsmarkt“ (Pferdemarkt) nicht gewachsen. Der aus den blauen Beeren des Waldes gekelterte Wein ĂŒbermannte ihn derart, dass er beim Verlassen des Gasthauses in seine berĂŒhmte Bassgeige, die „Kattl“ stĂŒrzte. Ein Mitmusikant war darĂŒber sehr entsetzt und sprach zum Jockel:
„Jockel, jetzt is doi schĂ€i Bassgeisch (Bassgeige) awwer im Arsch“!
Schlagfertig entgegnete Jockel daraufhin:
„Im Geschedal – moin Arsch is in de Bassgeisch!“
Ja, der Jockel war weit ĂŒber den Odenwald hinaus fĂŒr seinen Humor und seine Schlitzohrigkeit bekannt. Er brachte es immer wieder fertig, die Leute zum Schmunzeln oder Lachen zu bringen.
So lief ihm eines Tages sein Hausarzt auf dem Raubacher Friedhof ĂŒber den Weg. Auf die Anspielung der TĂ€tigkeit des Jockel als TotengrĂ€ber sprach der Doktor ihn mit den Worten an:
„Guten Tag Herr Versenkungsrat!“
Worauf der Jockel prompt entgegnete:
„Gut Tag, Herr Lieferant!“
Sein liebstes Musikinstrument war seine Bassgeige. Diese Bassgeige bekam von ihm den Namen „Kattl“. Wenn er von seiner Bassgeige sprach, sprach er immer von seiner „Braut, der schwarzen Kattl“. Zu diesem Instrument wurde eine Aussage des Jockel bekannt, die typisch fĂŒr ihn ist und nach einer lĂ€ngeren Musikpause zustande kam:
„Isch waas nett, moi Kattl protzt desmol aik laong mit mĂ€r. Des werd nett anerschder, bis isch se werra mol an de Hals greif un schdreischelse iwwer de Bauch“.

Übersetzt heißt dieser Ausspruch des Jockel:
„Ich weiß nicht, meine Bassgeige ist heute sehr verĂ€rgert ĂŒber mich. Das wird nicht anders, bevor ich sie nicht am Steg greife und ihr ĂŒber den Bauch streiche!“,
wobei er damit ausdrĂŒcken will, dass es langsam wieder an der Zeit ist mit der Musik aufzuspielen.

Wie schon erwĂ€hnt, war der Jockel in vielen Berufen tĂ€tig. So auch als Köhler. Der Jockel betreute im Wald des Grafen zu Erbach-FĂŒrstenau mehrere Kohlenmeiler, als der Graf selbst auf ihn zu kam und nach dem Weg in die Raubach fragte, denn er hatte sich verlaufen.
Jockel erklĂ€rte ihm den Weg in die Raubach folgendermaßen:

„Woann DU in die Raubach willscht, doa muschte dort erscht de Buckel nuff, dann widder nunner un doann widder de Buckel nuff, dann bischt DU in den Raubach!“

Der Graf zu Erbach FĂŒrstenau war darĂŒber sehr entsetzt, dass sich eine so niedere Person gewagt hatte, ihn, den Grafen, mit DU anzusprechen und erwiderte:
„Weiß Er denn nicht, wer ich bin? Ich bin der Graf zu Erbach-FĂŒrstenau!“
Darauf entgegnete der Jockel schlagfertig:

„Ah woann DU de Graf bischt, doann muscht DU doch erscht de Buckel nuff, dann de Buckel widder nunner und doann den Buckel widder nuff, sunscht kimmscht DU die Lebdach nett in die Raubach!“

Die AusfĂŒhrungen des Jockel ĂŒbersetzt lauten folgendermaßen:
„Auch wenn DU der Graf bist - wenn DU in die Raubach willst, musst DU erst den Berg hinauf und dann auf der anderen Seite wieder hinunter. Dann musst DU den nĂ€chsten Berg wieder hinauf. Sonst kommst DU nie in die Raubach“.

Diese Verhaltensweise des Jockel dem Herrn Grafen gegenĂŒber soll aber ohne Folgen geblieben sein.

Jockel war Zeit seines Lebens nicht verheiratet. Ob er das eine oder andere Liebchen hatte, ist auch nicht bekannt. Legte er eine Ruhepause von seinem bewegten Leben in Raubach ein, bewohnte er eine Kammer bei der Familie SchÀfer.
Im hohen Lebensalter war Jockel nicht mehr selbst in der Lage fĂŒr sich zu sorgen. Die Dorfgemeinschaft Raubach betreute Jockel bis zu seinem Lebensende und gab ihm „Freitisch“ bei Familie SchĂ€fer.
Jakob Ihrig verstarb am 24.10.1941 und wurde auf dem Friedhof des Dorfes Raubach beigesetzt.
Bereits zu Lebzeiten wurde der Jockel zur Legende. Jockels Motto, mit dem er sein Leben meisterte und nach dem er sein Leben gestaltete, kommt in einem alten OdenwÀlder Tanzliedchen vor:
„Holt der Deibel auch die Welt,
Lustig sein ist Trumpf,
und so lang der Stiefel hÀlt,
braucht man keinen Strumpf!“
Alle vorgenannten Anekdoten und viele weiteren Episoden werden gerne weiter erzĂ€hlt. Viele ErzĂ€hlungen beruhen auf Wahrheit; andere sind hinzu gedichtet. Niemand, außer dem Jakob Ihrig, könnte darĂŒber genaue Auskunft geben.
Was legendĂ€r und erhalten geblieben ist, das sind die hintersinnigen AussprĂŒche und die die Situationskomik, fĂŒr die „unser Jockel“ bekannt war.

Quelle:

Geo-Park Bergstraße/Odenwald Raubacher Jockel
EnzyklopÀdie Jakob, Jockel
OdenwÀlder Kartoffelsupp Kirsten Sundermann
SĂ€ll un Jenes Peter Dotterweich
Sellemols vor hunnert Joahrn JĂŒrgen Poth
Die Raubach und ihr Jockel Interessengemeinschaft „Raubacher Jockel“ und Horst Schnur
Geschichte aus dem Odw Bd. I Friedrich Höreth
Was uns der Odw erzÀhlt Bd. II Ernst Göbel
Manfred Kassimir Text und Bilder