Das Odenwälder Lieschen

Eine Odenwälder Nebenbahn zwischen Reinheim und Reichelsheim

von

(Manfred Kassimir)

 

Das Gersprenztal, ein Teil des Odenwaldes, liegt geografisch gesehen zwischen der Bergstraße und dem Mümlingtal und verläuft überwiegend in Nord/Süd-Richtung. Diese Gegend ist spärlich mit kleinen Dörfern entlang des gleichnamigen Flusses besiedelt. Diese Dörfer und Weiler waren nur schwer mit Fuhrwerken und zu Fuß erreichbar. Hatten die begüterten Einwohner die Möglichkeit sich mit der Postkutsche oder privaten Kutschen auf ausgefahrenen Fahrwegen zu bewegen, blieb es dem Normalbürger vorbehalten, sich mit dem Eselskarren oder zu Fuß in größere Städte aufzumachen. Sogar Hundekarren kamen zum Einsatz, um Waren auf die großen Wochenmärkte der größeren Städte, wie z. B. Darmstadt, Mannheim oder Frankfurt, anzuliefern.

Postkutsche der Kaiserlichen Reichspost am Postamt in Reichelsheim. 2)

Frauen mit geflochtenenWeidenkörben auf dem Kopf waren keine Seltenheit.

Diese Zustände sind heute nicht mehr vorstellbar, da jede kleine Ortschaft mit dem Auto schnell und unkompliziert erreichbar ist.

Die angelegten Weg waren in schlechtem Zustand und führten meist entlang eines Bachlaufes, der auch öfters überquert werden musste. Brücken waren keine vorhanden und so war man auf eine Furt angewiesen. Bei starkem Wasseraufkommen war eine Querung nicht oder nur unter erheblichen Gefahren möglich.

Die politische Lage in Deutschland trug dazu bei, dass eine zusammenhängende Verkehrsplanung nicht zustande kam. Erst die Aufhebung der Kleinstaaterei durch Napoleon ab 1806 trug dazu bei, die Kleinstaatsgrenzen zu überwinden und es zu überregionalen Verkehrsplanungen kommen konnte.

Ein riesiger Fortschritt in der Menschheitsgeschichte ergab sich mit der Erfindung der Dampfmaschine, die zum Zeitalter der Eisenbahn führte. So kam auch die Idee auf, neben der Odenwaldbahn, die von Darmstadt über Erbach nach Eberbach ins Neckartal führte, eine Nebenstrecke zwischen Reinheim und Reichelsheim zu errichten, die den ersten Planungen zufolge später über Weinheim bis nach Mannheim führen sollte.

Erste Überlegungen für eine Gersprenztalbahn fanden bereits in den 30-iger Jahren des 19. Jahrhunderts statt.

Zeigte die Eisenbahn ab 1835 mit der ersten Bahnlinie Nürnberg-Fürth frühe Erfolge, blieben die Planungen zur Erschließung des Odenwaldes noch weit zurück.

Die Erschließung Deutschlands durch die Eisenbahn als Verkehrsmittel nahm weiter an Bedeutung zu, bis auch das Gersprenztal ab 1868 ernsthaft in die Planung einer Eisenbahnlinie einbezogen wurde.

Es sollten aber bis zur Verwirklichung dieses Planes noch ca. 20 Jahre ins Land gehen, bis eine Teilplanung in die Wirklichkeit umgesetzt werden konnte.

Die Dörfer und Gemeinden des Gersprenztales bemühten sich gemeinsam um die Durchführung einer Planung, indem sie gemeinsam Petitionen und Bittschriften verfassten.

So kam es über einen längeren Zeitraum zu Zu- und Absagen verschiedener verantwortlicher Stellen.

Planungen wurden erstellt und wieder verworfen, Vermessungen durchgeführt und wieder zurückgewiesen.

Nach langer Überlegungs- und Planungsphase kam es 1887 doch zu einem Baubeginn, nachdem die „Königliche Hoheit“, der Großherzog Ludwig IV. von Hessen und bei Rhein, die Konzession zum Bau einer Eisenbahn bewilligt hatte.

Streckenplan mit Haltestellen und Bahnhöfen. 3)

Nach der Konzessionsbewilligung wurde  sofort ab 1887 an verschiedenen Stellen mit dem Aufbau der Gleisanlagen und Betriebsgebäude begonnen, sodass bereits im Oktober des gleichen Jahres die Bahnlinie in Betrieb genommen werden konnte.
Um diese Aufgabe zu bewältigen,  wurden auch ausländische Arbeitskräfte angeworben (Italiener), die ihre Erfahrung in der Steinbearbeitung mitbrachten und später in den umliegenden Bergwerken ihr Auskommen fanden.
Wie auch heute üblich, stieß der Ausbau der Bahnstrecke bei einigen Mitbürgern des Gersprenztales auf Widerstand, zumal eine Abtretung von dem Gelände mit nur geringfügiger Entschädigungsleistung der Eigentümer erfolgen sollte. Zwangsenteignung waren die Folge und keine Seltenheit.
Mit der Finanzierung und dem Ausbau der Eisenbahnlinie Reinheim-Reichelsheim wurde die Firma „Eisenbahnconsortium Darmstädter Bank-Herrmann Bachstein“ betraut, die später auch die Bahnlinie als Privatbahn in Eigenregie führte. Zur Finanzierung der Strecke wurde ein staatlicher Zuschuss in Höhe von 290.000 MK gewährt. Die Bergbaufirma „de Wendel“, die die Abbaurechte für Mangan in Bockenrod besaß, steuerte ebenfalls 2.000 Mark zur Finanzierung der Eisenbahnlinie bei.

Arbeiter beim Gleisbau in Kirch-Beerfurth gegenüber der Volksschule. 4)

Dörfer und Gemeinden, die direkt an der Bahnstrecke lagen, mussten bis zu 50 %  der Herstellungskosten für ihren Streckenabschnitt selbst tragen.
Entfernter liegende Gemeinden hatten einen entsprechend geringeren Anteil zu entrichten.
Eine endgültige Abrechnung der Gesamtherstellungkosten konnte erst 1905 erfolgen.
Am 10. Oktober 1887 war es dann soweit. Die Bahnstrecke Reinheim-Reichelsheim wurde mit großer Feierlichkeit eröffnet.
Lärmend und pfeifend setzte sich der erste Zug,  „das Odenwälder Lieschen“, in Bewegung und erstaunte die Gersprenztaler Bevölkerung.

Im Innern eines CI-Personenwagens mit Holzbänken. 5)

Zur Eröffnung wurde nachfolgend aufgeführtes Gedicht verfasst – Verfasser unbekannt.


Wohin mein Auge auch mag schauen
im lieben schönen Hessenland,
am schönsten unter allen Gauen
ich stets den Odenwald doch fand.

 

Denn Segen ruht auf seinen Fluren,
die Thäler stehen voll Korn und Wein!
Und sagenhafter Vorzeit Spuren
schimmern vom Berg im Abendschein.

 

Nur Wenige kannten`s und nur leise
erklang ein Wörtchen, das dich pries;
denn die Beschwerlichkeit der Reise
abwehrend schloss das Paradies.

 

Wie anders jetzt!  Statt Dölp`scher Röhre
erschlossen ist das schöne Land;
das Dampfross, dienend dem Verkehre,
zeigt, dass die neue Zeit erstand.


Mög mit dem neuen Schienenwege
Gewerbefleiß blühen, Handel, Glück!
damit des Odenwaldes Segen
nicht länger stehen muss zurück.

 

Der Männer, die die Bahn uns bauten,
sei auch noch dankend heut gedacht,
die unserer guten Sache trauten,
sei froh ein donnernd Hoch gebracht!


Der Bahnbetrieb wurde in den ersten 7 Jahren durch das Eisenbahnconsortium „Darmstäder Bank - Herrmann Bachstein“ betrieben, bis sie die nächsten 60 Jahre von der „Süddeutschen Eisenbahngesellschaft“ (SEG) übernommen wurde. Erst im Jahr 1953 wurde der Betrieb an das Land Hessen übertragen.
1886 wurde von der de Wendelschen Bergbaugesellschaft eine 2200 Meter lange Seilbahn aus der Manganerzgrube bis zum Bahnhof Bockenrod errichtet, die mit einer Tagesleistung  von 25 Doppelwagons das Odenwälder Lieschen bestückte. Vor dem Ausbau der Bahnlinie war eine Tagesleistung von 4 Pferdefuhrwerken möglich, die das gewonnene Erz von Bockenrod nach Reinheim transportierte.
Im Bereich des Abbaugebietes oberhalb von Bockenrod wurde bis 1900 Erz abgebaut. Darüber hinaus lohnte sich der Abbau nicht mehr und dem Bahnbetrieb ging eine lohnende Einnahmequelle verloren.
Die Bahnstrecke des „Odenwälder „Lieschens“ führte überwiegend parallel zur „Chaussee“ genannten Straße. 

ELNA Dampflok RE 140 an der Haltestelle Ober-Gersprenz am Gasthaus "Zum Reichenberg".6)

 

Fuhren in der Anfangsphase 3 Personenzüge in jede Richtung und zusätzlich an samstäglichen Markttagen weitere Verbindungen nach Darmstadt, so steigerte sich im Verlaufe der Zeit der Bedarf auf 10 Personenzüge, die fahrplanmäßig die Strecke in beide Richtungen befuhren. Die beförderte Personenzahl hatte sich von 1894 bis 1921 nahezu verdreifacht.
Um den reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, wurden auf der Strecke Morseleitungen eingerichtet, die später durch eine Fernsprechleitung ersetzt wurden.
Musste das „Odenwälder Lieschen“ eine Straßenkreuzung queren, hatte der Zug anzuhalten. Der Zugführer musste die Schranke per Hand schließen und erst nachdem entsprechenden Signal durfte sich der Zug in Bewegung setzen.
Die in den Bahnhöfen angelegten Ausweichstrecken waren mittels Handbetrieb zu stellenden Weichen zu befahren.
Am Endpunkt der Bahnstrecke in Reichelsheim waren ein Lokschuppen, Kohlebunker und eine Betriebswerkstatt vorhanden. Dort wurden auch Fremdinstandsetzungen für andere SEG-Bahnen, wie z. B. für die Nebenbahn Hetzbach-Beerfelden (1904-1954), durchgeführt.
Dem Zug wurde ein Packwagen mit Postabteil hinzugefügt, indem während der Fahrt die Post sortiert und gestempelt wurde.

 Bahnpoststempel von 1890 und Bahnpostwagen PW 35 mit Briefeinwurf links. 7)

 

Eine Bahnmeisterei, die sich in Groß-Bieberau befand, war für die Instandhaltung der Gleisanlage und für die Materialbeschaffung zuständig.
Um die Betriebssicherheit zu gewährleisten, wurde eine Fahrdienstanordnung erlassen, die besagte, dass der Streckenabschnitt, der parallel zur „Chaussee“ verlief, nicht schneller als mit 20 km/h zu befahren war. Die übrige Strecke durfte mit max. 30 km/h befahren werden. Eine weitere Vorschrift sagte aus, dass beim Durchfahren von Ortschaften 12 km/h nicht überschritten werden durfte. Eine weitere Einschränkung wurde erlassen, die aussagte, dass bei Begegnungen von Tiergespannen besondere Vorsicht zu walten habe. Und beim Passieren einer „Fürstlichen Person“ hatte der Zug anzuhalten und durfte erst wieder in Bewegung gesetzt werden, wenn die hoheitliche Person außer Sicht war.

In Kirch-Beerfurth 1949. 8)

War der Gleiskörper durch Wasser oder Unrat bedeckt, hat der Zugführer die Pflicht die Gleise zu überprüfen und erst nach der Gefahrenbehebung die Weiterfahrt zu gestatten.
An besonderen Gefahrenstellen musste sich das Odenwälder Lieschen durch Pfeif- und Glockengeläut auf sich aufmerksam machen. Der Zugbegleiter musste teilweise mit einer Handglocke auf die nahende Gefahr aufmerksam machen.
Die Bahnstrecke des Odenwälder Lieschens hatte folgende Bahnhöfe bzw. Haltestellen aufzuweisen:
Reinheim (km 0,0), Haltestelle Reinheim am Tunnel (zeitweise), Groß-Bieberau (km 3,3), Wersau (km 6,7), Brensbach (km 8,8), Nieder-Kainsbach (km 10,6), Nieder-Kainsbach-Fränkisch-Crumbach (km 11,2), Unter-Gersprenz (km 12,6), Ober-Gersprenz (km 13,7), Kirch- und Pfaffen-Beerfurth (km 14,9), Bockenrod (km 16,2) und Reichelsheim (km 17,9).

Der Bahnhof n Reichelsheim mit Triebwagen VT 23 sowie Personenzug mit Dampflok der Bauart Mallet. 9)

Die 17, 94 Kilometer lange Strecke hatte insgesamt 20 Straßen- und Feldwegkreuzungen, die zunächst durch Warnschilder gekennzeichnet waren. Später wurden diese teilweise durch Schranken oder Blinklichtanlagen ersetzt.
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und Vorschriften blieb das Odenwälder Lieschen von Unfällen nicht verschont. Es kam zu Entgleisungen wegen schlechter Trassenführung und Gleisbau. War die Strecke durch einen Unfall nicht mehr befahrbar, hatten die Gäste ihren Weg zu Fuß fortzusetzen – egal wie der Wind und das Wetter das Fortkommen erschwerte.
In einfachen Fällen konnten die Bahnbediensteten die Lokomotive oder Waggon selbst wieder auf die Gleise aufsetzen, ohne dass dazu Fachpersonal oder schwere Maschinen notwendig waren.

 Unfall am Ortsausgang von Kirch-Beerfurth in Richtung Gersprenztal 1950. 10, 11)

 

Aber auch schwere Unfälle, meist auf menschliches Versagen zurückzuführen, blieben nicht aus. Aufgrund von Kommunikationsfehlern kam es z. B. zu  einem Frontalzusammenstoß eines Triebwagens mit einer Lokomotive, wobei der Triebwagen in Flammen aufging und total zerstört wurde. 1 Schüler aus Reichelsheim erlag später seinen Verletzungen.Mehrere verletzte Passagiere  waren die Folge des Zusammenstoßes.
Ab 1953 wurde die Bahnstrecke vom Land Hessen übernommen.
Wegen rückläufiger Personenbeförderung, durch die vorausgegangene Leichtbauweise der Bahnstrecke und ausbleibenden Investitionen, hätte in die Strecke einen Millionenbetrag investiert werden müssen. So wurde seitens der Hessischen Landesregierung der Beschluss gefasst, den Personen- sowie den Güterverkehr auf die Straße zu verlegen. Ab dem 26. Mai 1963 wurde der Personenverkehr auf der Schiene eingestellt.

Die Trachtengruppe des OWK Reichelsheim bei der Abschiedsfeier am Samstag den 25.Mai 1963 in Reinheim an der ELNA-Dampflok RRE 140 12)

 Im August 1964 erfolgte die endgültige Einstellung des Güterverkehrs. So wurde eine Teilstrecke zwischen Reichelsheim und Groß-Bieberau stillgelegt und die Gleisanlage zurück gebaut.. Teilweise wurde die vorhandene Trasse in die heutige Bundesstraße 38 integriert, das  heißt, das Areal wurde zur Verbreiterung der Straße genutzt.

Demonatge der Gleisanlagen in Kirch-Beerfurth im August 1964. 13,14)


Die Gleise von Groß-Bieberau bis nach Reinheim wurden von der Odenwälder Hartsteinindustrie als Privatbahn übernommen und firmierte als Eisenbahn Groß-Bieberau Reinheim GmbH. Aber auch auf dieser Strecke wurde 2002 der Betrieb eingestellt, sodass die verbliebenen Gleis- und Betriebsanlagen ungenutzt zurück blieben.
So hatte das „Odenwälder Lieschen“ 77 Jahre lang seine Schuldigkeit getan und nach 1945 zum „Deutschen Wirtschaftswunder“ beigetragen. Jetzt nicht mehr konkurrenzfähig, geriet sie in Vergessenheit.
Seit diesem Jahr (2019) wurden die Stimmen aus der Gersprenztaler Bevölkerung wieder lauter, dass eine Teilstrecke des „Lieschens“ zwischen Groß-Bieberau und Reinheim wieder reaktiviert werden sollte. Auch der Neubau einer Strecke von Groß-Bieberau bis Reichelsheim wurde angeregt, zumal täglich über 10.000 Personen aus den Anliegergemeinden im Gersprenztal als Pendler statistisch (Stand: 2017) erfasst sind. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Forderungen in der Zukunft weiterentwickeln.


Fotonachweise:

Die Bilder wurden mit freundlicher Genehmigung folgender Personen und Institutionen zur Verfügung gestellt:


1), 9)                       Regionalmuseum Reichelsheim
2)                            Buch 100 Jahre Eisenbahn im Gersprenztal 1887-1987,
                               Georg Dascher und Wolfgang Kalberlah, Oktober 1986
3), 6), 11), 13), 14)  Archiv Hans Peter Trautmann, Reichelsheim
4), 7)                       Foto-Meier, Traisa 1949
5), 8)                       Dieter Höltge
10), 12)                   Archiv Gerd Schwinn, Reichelsheim

 

Quellen:

Georg Dascher/ Wolfgang Kalberlah

100 Jahre Eisenbahn im Gersprenztal 1887-1987

Auf Schienen nach Reichelsheim

Georg Dascher Das Odenwälder Lieschen – Die Heimat 1971
Gerhard Grünewald Plötzlich mehr als ein Museumsstück – DA-Echo 26.04.19
Manfred Kassimir Text
Wikipedia Waldhufendorf

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mein Dank gilt Hans-Peter Trautmann für seine fachliche Beratung und das
Korrekturlesen meines Manuskriptes.

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 

 

Â