Wanderjahre oder "Auf der Walz"

von

(Manfred Kassimir)

 

Bereits Anfang des 13. Jahrhunderts hatte sich ein Berufsstand in der Gesellschaft entwickelt, die eine gewisse Macht und Selbstständigkeit in den Städten ausübten – die Handwerkerschaft und ihre Zünfte. Das Zeitalter der Zünfte war angebrochen.
Die Zunft war ein Zusammenschluss einer bestimmten Berufsgruppe, die die Arbeitsbedingungen, Qualität ihrer Arbeit und die Preise regelten. Mitglieder der Zunft unterstützten sich gegenseitig in finanzieller Not  oder bei Krankheit.  Wer Mitglied in einer Zunft sein wollte, unterwarf sich einer gewissen Zunftordnung, die über Sitte, Ordnung und Anstand wachte. Der Name Zunft kommt aus dem Sprachgebrauch „ziemen“ und bedeutet soviel wie Schicklichkeit, Würde, Benehmen.
Die Handwerker, die sich in einer Zunft zusammengeschlossen hatten, waren bestrebt, eine gewisse Ordnung einzubringen.  Dazu gehörte, dass nur eine gewisse Anzahl von Meisterbetrieben für ihre Stadt zugelassen wurden. Und diese Meisterbetriebe durften nur über eine gewisse Anzahl von Lehrlingen und Gesellen verfügen. Diese Bestimmung hatte den Zweck, dass alle ansässigen Betriebe über ausreichend Einkommen verfügten.
Hatte ein Handwerker die Absicht einen Meisterbetrieb zu eröffnen, was die Voraussetzung für ein selbstständiges Arbeiten war, musste er gewisse Vorleistungen zu erbringen. So hatte er nach der Antragsstellung eine gewisse Wartefrist einzuhalten, „Mutung“ genannt. In dieser Wartezeit war die Aufgabenstellung des Antragstellers eine vorgegebene Meisterarbeit zu fertigen. Die Zeit der „Mutung“ konnte verkürzt werden, wenn der Antragsteller eine verwitwete Meisterfrau  oder die Tochter eines Meisters ehelichte. Ferner musste er das Bürgerrecht der Stadt erwerben, was bedeutete, dass ein größerer Geldbetrag an die Stadt zu entrichten war und er für seine militärische Ausrüstung aufzukommen hatte. Wichtigste Voraussetzung für den Erwerb des Meistertitels war aber der Nachweis der Wanderschaft „Walz“ genannt.
War die Wanderschaft Anfang des 13. Jahrhunderts noch freiwillig, war dies ab dem 16. Jahrhundert Pflicht. Diese Pflicht zur Wanderung, oder „auf die Walz gehen“ wurde erst mit Gründung des Deutschen Reiches 1871 aufgehoben. Ihnen folgten die Handwerkskammern und die Innungen mit dem Status des „Öffentlichen Rechts“.
Mit dem Eintritt in eine Zunft unterwarf sich der Handwerker automatisch der Zunftordnung. Verstieß er gegen deren Regeln, konnte er aus der Zunft ausgeschlossen werden und hatte nicht mehr die Möglichkeit selbstständig in seinem Gewerbe zu arbeiten.
Beabsichtigte ein junger Mensch  einen handwerklichen Beruf zu ergreifen, musste er zunächst einen tadellosen Leumund vorweisen. Er musste von ehelicher Geburt sein, seine Eltern durften keinen unehrlichen Beruf ausüben (Scharfrichter, Abdecker, Totengräber, Nachtwächter) und er musste schuldenfrei sein.
Um eine Lehrstelle antreten zu können, war auch das Lehrgeld im Voraus an den auszubildenden Meister zu entrichten.
Die Lehrstelle wurde in der Regel mit dem 14. Lebensjahr angetreten. Der Lehrjunge wurde in die Familie des Meisters aufgenommen, was bedeutete, dass der junge Mensch nicht nur seine Arbeit in der Werkstatt fand, sondern er hatte auch seinen Schlafplatz im Haus des Meisters und unterlag dessen Erziehungsgewalt. Im Gegenzug verpflichtete sich der Meister fĂĽr die Ausbildung, die Bekleidung und die Verpflegung des Lehrlings Sorge zu tragen.
Die Lehrzeit erstreckte sich über einen Zeitraum von drei Jahren und schloss mit einer Prüfung ab. Der Lehrling wurde vor versammelter Handwerkerschaft „frei gesprochen“. Mit dem Freispruch erhielt der Junggeselle von seinem Meister das notwendige Handwerksgerät (Hobel, Kelle, pp.) ausgehändigt. Mit bestandener Prüfung wurde dem Junggesellen ein Wanderbuch übergeben. Auf den Anfangsseiten dieses Buches waren die persönlichen Daten, Name Geburtsdatum, Personenbeschreibung eingetragen. Ferner wurde ein Auszug aus der Zunftordnung beigegeben.
Dieses Wanderbuch begleitete den Junghandwerker nun auf dem gesamten Weg seiner Wanderschaft und musste bei jeder Arbeitsstation dem Meister vorgelegt werden. Beendete der Wanderbursche seine zeitlich befristete Arbeit, wurde durch den Meister ein Zeugnis in das Wanderbuch niedergeschrieben. Eigene Eintragungen durfte der Handwerksbursche in sein Wanderbuch nicht vornehmen.
Hatte im Odenwald der Lehrling sein Ziel erreicht Geselle zu werden und beabsichtigte auf die Walz zu gehen, war es für ihn eine Pflicht, eine Flasche Wein am Ortsrand zu vergraben und von innen nach außen das Dorfschild zu übersteigen. War er nun auf der Walz, durfte er sich für drei Jahre und einen Tag seinem Heimatort nicht mehr als 30 Meilen nähern.  Kehrte er nach Ablauf seiner Wanderung in seinen Heimatort zurück, musste er das Ortschild nunmehr von außen nach innen übersteigen und die vergrabenen Flasche Wein gemeinsam mit seinen Freunden und der Familie an Ort und Stelle trinken.
Ist ein Wandergeselle auf der Walz, hat er sich ausschlieĂźlich zu FuĂź fortzubewegen.
Der Wanderbursche auf der Walz ist äußerlich immer erkennbar. Je nach Zunftzugehörigkeit trug er eine Kopfbedeckung – Schlapphut, Zylinder oder Koks (Melone), ein kragenloses Hemd, Staude genannt. Darüber trägt er eine Weste aus Samt- oder Manchesterstoff mit Perlmutknöpfen. Die „Ehrbarkeit“ ist ein, den Zünften entsprechendes, farbiges Halstuch. Die Jacke ist mit 6 Knöpfen besetzt. Die Hose aus Manchesterstoff hat Beine mit weitem Schlag. Der Handwerksbursche führt einen Wanderstab – Stenz – mit sich. Seine Habseligkeiten sind in einem großen Tuch eingeschlagen und werden auf dem Rücken getragen.
Die Route eines Wanderburschen führte in der Regel durch den deutschsprachigen Raum;  konnte aber auch in das europäische Ausland führen.

 

Im Laufe der Zeit entwickelten sich Begriffe aus dem Brauchtum der Walz, die  auch noch in der heutigen Zeit Bestand haben:

 

Krauter - kleiner Handwerksbetrieb 
Jakobsfedern - im Stroh schlafen
Kluft - Anzug
Stenz - Wanderstab
Dippeln - wandern
Alten Speckjäger - erfahrener Wanderbursche
Verkohlen - anschmieren
Warmer Löffel - gute Mahlzeit
Kohldampf - Hunger
Fleppe - Ausweispapiere
Pollente - Polizei
Schuften  - arbeiten
Penne - Unterkunft
Sacktag - Zahltag

 

Die Gesellen bildeten aus ihrer Gruppe heraus eigene Vereinigungen, Trinkstube genannt, die ein wandernder Geselle auf seiner Wanderschaft ansteuerte um erste Kontakte für eine neue Arbeitsstelle zu knüpfen. Auch diese Vereinigungen hatten gewisse Regeln, aus denen sich Rituale und Bräuche entwickelten (z. B. bei einem Arbeitsgesuch einen gewissen Spruch aufzusagen). Die Altgesellen bemühten sich für den Neuankömmling eine Arbeitsstelle zu vermitteln. Gelang dies dem Altgesellen, gab er dies mit dem Ausspruch kund: „Glück in der Werkstatt!“.

Gelang ihm dies nicht, so so sprach er: „Glück in das Feld!“. So  musste der Wandergeselle sich wieder auf die Walz begeben. Ihm wurde ein Zehrgeld mit auf den Weg gegeben.
Zu Beginn seiner Wanderschaft erhielt der Wanderbursche einen Ohrring, der als Symbol den Hinweis auf seinen Beruf enthielt.  Ließ sich der Handwerksbursche auf seiner Wanderschaft etwas zuschulden kommen, wurde ihm dieser Ohrring vom Ohr gerissen. Er war als “Schlitzohr“ gebranntmarkt und hatte auf einer weiteren Wanderschaft kaum noch Chancen Arbeit zu finden.
Kam es auf der Wanderschaft zu einem Arbeitsverhältnis in einem Meisterbetrieb, hatte der Handwerksgeselle ein Anrecht auf Kost und Logie, sowie auf ein kleines Entgelt.
Meister als auch der Geselle hatten das Recht das Arbeitsverhältnis einseitig zu beenden. Wurde das Arbeitsverhältnis von dem Wandergesellen gekündigt, durfte dieser sich nicht mehr in der gleichen Stadt verdingen. Er musste seine Wanderung fortsetzen.
Eine Wanderung durfte nur unter bestimmten Voraussetzungen  abgebrochen werden. Es bedurfte aber der Zustimmung der Zunft um z. B. wegen Krankheit seinen Weg zu unterbrechen oder gar ganz zu verlassen. Wurde die Wanderung ohne Zustimmung der Zunft abgebrochen, sprach man von einem „Harzgänger“.


Nicht alle Zünfte forderten den Nachweis der Wanderschaft. Diese Forderungen erhoben hauptsächlich Zünfte aus dem Baugewerbe.
Das Ziel der Wanderpflicht war, Erfahrungen in seinem Beruf zu erlangen oder auch neue Techniken zu erlernen. Hatte der Geselle die Absicht, sich in seinem Beruf selbstständig zu machen, ging kein Weg an der Walzaufnahme vorbei. Als Nebeneffekt kam natürlich auch der Blick über den eigenen Tellerrand hinzu.

Seit Anfang des 19. Jahrhunderts und mit dem Beginn der Industrialisierung wurde die Wanderpflicht nicht mehr zwingend vorgeschrieben. Industriebetriebe bildeten ihren Nachwuchs nach eigenen Erfordernissen aus. Die Walz wurde eine freiwillige Verpflichtung .
Bis heute blieb die Walz einzig im Baugewerbe erhalten, wo man heute noch vereinzelt auf Gesellen trifft, die sich auf der Walz befinden. Erkennbar an der nicht zu ĂĽbersehenden Kluftvorschriften, deren sich die Gesellen bis heute unterwerfen.
Märchen, aufgeschrieben und erzählt von den Gebrüder Grimm greifen immer wieder das Thema „Wandernde Handwerker in der Fremde“ als Thema auf:

 

        „Das tapfere Schneiderlein“
        „Tischlein deck dich“
        „Hans im Glück“

Und ein Gedicht ĂĽber den Wandergesellen und die Walz:
Wer in Lenzen seiner Jahre,
will was lernen und erfahren,
der muss in die Fremde ziehen,
der muss Wein und Jungfrau fliehn,
sonst wird er nimmermehr
mit sich bringen Kunst und Ehr!“

                                                                     Verfasser unbekannt.

 

 

Quellen:

Trautgott Hartmann Das Wanderbüchlein des Joh. Friedrich aus Sandbach – Gelurt 2005
Herbert Hartung Das gesellenwandern im Rahmen der Zunftordnung am Beispiel des Michelstädter Färbergesellen Johann Michael Rexroth
Ernst Hieronymus

Von Handwerkern und Zünften Auf der Walz – Odenwaldheimat 7/1994

Anja Ingelmann  Wer lernen will muss weg – DA-Echo28.02.2018
Helmut Joho Wanderbücher Eberbacher Handwerksgesellen –
Eberbacher Geschichtsblatt 1979-81
Gabriele Lerrmann  Die Walz als Schule des Lebens – DA-Echo 27.11.2017
Dieter Nadolski Alte Handwerksbräuche
Tanya Rothe Auf der Walz sein
Jan H. Sachers  Beruf, Zünfte und Gewerbe – Karfunkel Codex
Dr. Barbara Stühlmeyer Die Zünfte – Mit vereinten Kräften
Kristin Weber Beruf, Zünfte und Gewerbe – Karfunkel Codex 
Das Wandern ist des Müllers Lust – Karfunkel Co.
Wikipedia Wanderjahre
Wanderbuch
Zunft ist die erste Berufsvereinigung

 Online-Magazin des Heimatvereins Taucha e. V. – Bild Wanderbursche dankenswerderweise zur Verfügung gestellt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
 

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