Erdbacheinschlupf-Erdbachschwinde


(von Manfred Kassimir)

„Die Natur hat keine Sprache noch Rede,
aber sie schafft Zungen und Herzen,
durch die sie fühlt und spricht.“

(Zitat v. Joh. Wolfgang von Goethe)

Das Gebiet Erbach/Michelstadt liegt zwischen Rhein-Main Neckar und wird als Odenwald bezeichnet. Der Odenwald ist eines der größten zusammenhängende Waldgebiete Hessens. Gerade der Bereich Erbach/Michelstadt weist ein Naturphänomen auf, das noch weitestgehend unbekannt und unerforscht ist.
Verschiedenste Bemühungen dieses Phänomen aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken, blieben größtenteils im Anfangsstadium stecken oder kamen über erste enthusiastische Schritte nicht hinaus. Erfolgsversprechende Ansätze jedenfalls waren genügend vorhanden.
Die Gründe, weshalb es zu keiner weiteren Erforschung des „Naturwunders“ kam, blieben dem Verfasser jedenfalls verborgen.
Um welches Phänomen handelt es sich hier? Ich spreche hier von der Erdbachversickerung in Erbach Ortsteil Dorf-Erbach und dessen Wiedererscheinen im Michelstädter Ortsteil Stockheim.

Zunächst aber ein Rückblick auf die Entstehungsgeschichte dieses Phänomens, wodurch dieses Naturschauspiel erst zustande kam.

Der so genannte Erdbacheinschlupf, in Fachkreisen „Erdbachschwinde“ genannt, im Muschelkalk des Erbach/Michelstädter Grabens ist eine in Fachkreisen bekannten „interessantesten Höhle Hessen“ und die größte Karsterscheinung Südhessens. Sie ist ein aktives Karstentwässerungssystem, das nur bei Niedrigwasser und unter Zuhilfenahme der Restumleitung des Erdbaches begangen werden kann.
Karst – Das Wort Karst stammt aus dem slawischen Wortgebrauch und bedeutet „Fels“. Karst entsteht dort, wo das Gestein aus Kalk besteht. Durch den chemischen Vorgang – Säure aus der Atmosphäre und Regenwasser, das in den Kalkstein eindringt, wird dieses Gemisch so aggressiv, dass sich der Kalkstein auflöst und löchrig wird. Schmale Durchlässe und Höhen (Tropfsteinhöhlen) entstehen.

Während der Odenwald in diesem Bereich zum Buntsandsteingebiet gezählt wird, bildet der Erbach-Michelstädter Graben eine Rippe aus Muschelkalk.
Die Entstehung dieser Rippe ist folgendermaßen zu erklären:
Der Muschelkalk entstand vor über 230 Millionen Jahren aus den Ablagerungen eines Flachmeeres, das sich über ganz Mitteleuropa ausgebreitet hatte. Zuvor war dieses Gebiet durch vegetationslose Wüste geprägt und Buntsandstein bildete die Ablagerungen. Bedingt durch das nachfolgende Flachmeer lagerte sich der Muschelkalk über den Buntsandstein ab, d. h., der Muschelkalk ist in seiner Erscheinungsform jünger als der Buntsandstein.
Durch Witterungseinflüsse (Erosion) wurde der oben liegende Muschelkalk im Odenwaldgebiet abgetragen, sodass der Buntsandstein wieder die oberste Gesteinsschicht bildet, mit wenigen Ausnahmen, so auch der Erbach-Michelstädter Graben.
Diese Veränderung wurde möglich, als vor rund 70 – 50 Millionen Jahren die Alpen entstanden und die Erdkruste mit einer Dehnung Richtung Ost/West reagierte (Tertiär oder Erdneuzeit). Durch diese Dehnung entstanden Gräben und Grabschultern. Die Grabschultern wurden oftmals leicht angehoben, die Schollen sanken ab.
Während sich auf den Schollen die jüngeren Ablagerungen halten konnten (Muschelkalk), wurde sie auf den Grabschultern abgetragen, sodass die darunter liegenden Gesteinsschichten (hier Buntsandstein) zutage kamen.
Das hier beobachtete Ereignis nennt man Grabenverwerfung.
Dieses Phänomen bildet heute die Grundlage des Erbach-Michelstädter Grabens mit seiner Erdbachversickerung.

Der Bach „Erdbach“ wird aus 2 Quellen gespeist. Zum einen der „Hollerbrunnen“.
Diese Quelle liegt auf dem Gebiet von Ernsbach. Die zweite Quelle ist der Klingelbrunnen, dessen Gewässer auf dem Gebiet Erbuchs zu finden ist. Beides sind Ortsteile der Stadt Erbach.
Beide Quellflüsschen vereinen sich im Gebiet „Im Grund“ südöstlich von Dorf Erbach und bilden ab hier gemeinsam den Bachlauf „Erdbach“.
Der Erdbach fließt zunächst in nördliche Richtung. Am Ortseingang von Dorf Erbach teilt er sich. Ein Teil speist die dort angelegten Teiche des „Dreiseetales“, während der andere Teil parallel dazu ungehindert weiter in Richtung Dorf Erbach plätschert. Im Dorf selbst wurde die Kraft des Fließwassers genutzt um Mühlen zu betreiben.
So kam es dazu, dass der Erdbach auf seiner kurzen Strecke zwischen den Quellen und der Einmündung in die Mümling für eine Dreherei, später Lohmühle, genutzt wurde. Ein Stück weiter am Bachverlauf wurde das Wasser zum Antreiben einer Getreidemühle benutzt. Direkt an seinem späteren Austritt in Stockheim hat sich wiederum eine Mühle angesiedelt (Stockheimer Mühle) die sich das Fließwasser des Erdbach zu Nutze macht bis der Bach schließlich nach kurzem Lauf in die Mümling ergießt.
Unmittelbar, nachdem sich der Erdbach gegabelt hat, fällt das Wasser nach 100 Metern ca. 10 Meter in die Tiefe und verschwindet in seinen unterirdischen, unerforschten Gängen. In diesem Bereich befand sich zu früherer Zeit ein Kleinkraftwerk. Erste urkundliche Erwähnungen sprechen von einer Tuchfabrik (1850).
Der 2. Abzweig verläuft ca. 500-600 m oberirdisch weiter bis er die senkrechte Bruchwand aus Muschelkalk des Erbach-Michelstädter Grabens erreicht.
In dieser Rippe, dessen Verlauf etwa in Ost/Westrichtung liegt, befinden sich zahlreiche Löcher und Spalten, Poronen genannt, die den Bach schließlich verschwinden lassen. Unterirdisch sucht sich der Bach seinen Weg durch zahlreiche Gänge und Spalten, bis er schließlich an der nördlich gelegenen Bruchkante der Muschelkalkrippe sprudelnd wieder zum Vorschein kommt, wo er sofort wieder mit seiner Fließkraft die Stockheimer Mühle in Bewegung hält.
Vom oben genannten Wasserfall bis zum Austritt des Wassers in Stockheim sind es rund 750 Meter Luftlinie Entfernung.
Von den Poronen im Bereich der südlichen Bruchkante auf dem Gebiet Dorf Erbachs bis zum Wiederaustritt an der nördlichen Bruchkante sind es zwischen 100 und 150 Meter Luftlinie. Mehrfache Versuche mittels Farbe haben folgendes Ergebnis gebracht:
Die Strecke der 750 Meter Luftlinie legte das Wasser in 23 Stunden zurück. Für die Strecke zwischen Bruchkante Süd und Bruchkante Nord benötigte das Wasser rund 1 Stunde.
Beide eingefärbte Gewässer treten an der gleichen Austrittsstelle zu Tage.

Aufgrund dieser Farbversuche und Begehungsversuche wurden vielseitige Vermutungen angestellt:

- So wurde die Vermutung geäußert, dass das Wasser durch zahlreiche Windungen eine erheblich längere Strecke als vermutet zurücklegen muss.
- Andere stellen die Behauptung auf, dass das Wasser durch Geröll und Schlammmassen am schnelleren Durchlauf gehindert wird.
- Wieder andere stellen die These auf, dass sich unterhalb dieser Rippe ein großer See befinden würde und sich dadurch der Durchlauf des Wassers verzögere.
- Ein Wünschelrutengänger will sogar festgestellt haben, dass dieser See eine Ausdehnung von ca. 70 x 40 Meter hat und in einer Tiefe von ca. 35-40 Meter gelegen ist.
- Wieder andere vermuten weit ausgedehnte Tropfsteinhöhlen, wie sie in anderen Kalksteingebieten vorkommen.

Wissentlich ernst zu nehmende Begehungen der Spalten und Löcher des Erdbacheinschlupfes wurden ab 1959 durchgeführt.
Durch den Höhlenforscher Hans Dauer, der mit Unterstützung wissbegieriger Amateurhöhlenforscher aus der näheren Umgebung zusammen arbeitete, wurden die Erdbacheinschlüpfe mehrfach befahren. So konnten die Höhlenforscher ca. 400 Meter Gänge erforschen und dabei feststellen, dass diese Gänge nicht geradlinig, sondern teilweise übereinander angeordnet angelegt waren.
Viele Gänge mussten erst mühsam von Anschwemmungen vielfältiger Art gereinigt werden, um ein Vorwärtskommen zu ermöglichen.
Weshalb diese Forschungsgänge eingestellt wurden, entzieht sich meiner Kenntnis. Entsprechende Aufzeichnungen wurden von mir bisher nicht gefunden. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Gründe der Einstellung der Forschung irgendwo verzeichnet sind.
Es bleibt festzustellen, dass das Phänomen „Erdbacheinschlupf“ sein Geheimnis bisher noch nicht preis gegeben hat. Ob dies eine positive oder negative Betrachtungsweise nach sich zieht, bleibt jedem Leser selbst überlassen. Fest steht auf jeden Fall, dass der Phantasie des Erdbacheinschlupfes weiterhin keine Grenzen auferlegt werden können.

Neueren Informationen zufolge bemüht sich seit geraumer Zeit ein ortsansässiger Höhlenforscher, Herr Bernd Weinthäter, um weitere Kenntnisgewinnung zum Thema Erdbacheinschlupf. Auch hier gilt es abzuwarten, welche neuen Erkenntnisse hier ans Tageslicht gefördert werden. Bis dahin bleibt ein irdisches Geheimnis weiterhin gewahrt.

Impressionen Erdbach:

Quelle:

Jochen Babist Warum verschwindet bei Erbach der Erdbach in der Erde?
Ronald Böhm Karst und Höhlen im Michelstadt-Erbacher Graben
Wilhelm Hanst Die Heimat Ausgabe 1931/7
Sendereihe „Abenteuer Erde“ – „Am Erdbach“
Stefan Otter Die Erdbachhöhle bei Erbach im Odenwald
Sigmar Papendick Darmstädter Echo
Wolfgang Trinkaus Darmstädter Echo „Die Höhlenmenschen im Odenwald“
Bernd Weinthäter Erdbacheinschlupf
Dr. Heinrich Winter Der Odenwald
Manfred Kassimir Text und Bilder